Rede von Patricia Koller
Wir demonstrieren für ein selbstbestimmtes Leben, Teilhabe und Barrierefreiheit.
Wir protestieren gegen Ausgrenzung, Bevormundung und Unterdrückung. Wir werden laut und sichtbar. Wir sind der Randgruppenkrawall.
Seit 30 Jahren demonstrieren Menschen mit Behinderungen regelmäßig für ihre Rechte, für Barrierefreiheit, für Gleichstellung, bessere Teilhabemöglichkeiten an der Gesellschaft, fairere Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten usw.
Die Themen sind in all den Jahren die gleichen geblieben.
Wir haben die UN-Behindertenrechtskonvention, einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, den Deutschland unterschrieben hat. Sie ist ratifiziert, sie ist also geltendes Recht…
Deutschland setzt sie nur nicht um.
Wir haben das Grundgesetz, das verbietet, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen. Was nützen uns die schönsten Gesetze, wenn sich keiner daran hält?
In vielen deutschen Behörden weht ein brauner Wind. Immer noch. Wer als Mensch mit einer Behinderung oder psychischen Erkrankung um seine Rechtsansprüche kämpft, wird häufig in einen quälenden Strudel nicht enden wollender Demütigung, Schikane und Diskriminierung hineingezogen.
Wir sprechen beim Randgruppenkrawall auch immer wieder die finstere deutsche Geschichte an. Weil es nötig ist.
Selbst viele Deutsche wissen von dem Massenmord der Nazis an Menschen mit Behinderungen nichts, oder wollen es gar nicht hören. Dabei ist er noch gar nicht so lange her… Die Gemäuer der Mordanstalten stehen noch. Sie sind auch hier ganz in unserer Nähe…
Das ist ein Thema, das generell tabuisiert wird und genau deshalb reden WIR darüber. Um zu verstehen, was wir heute noch für Kämpfe mit den Behörden haben, ist es meines Erachtens wichtig, einzutauchen in die deutsche Vergangenheit und ihre tief verwurzelte Behindertenfeindlichkeit.
Die Öffentlichkeit hat keinen Einblick in die Einrichtungen. Unter anderem haben die Berichte von Günter Wallraff aufgezeigt, zu welch gewaltsamen, respektlosen und ekelhaften Übergriffen es auf wehrlose Menschen in Heimen und Psychiatrien kommen kann.
Niemand sollte lebensgefährlicher „Pflege“ ausgeliefert sein oder widerstandsunfähig als unfreiwilliges Sexobjekt missbraucht werden, wie es eine vom Hals abwärts gelähmte Freundin von mir erlebt hat.
Vor einem Jahr kam es zu den Morden im Oberlinhaus, begangen durch eine Pflegerin. Die Gesellschaft nahm das mit einem Schulterzucken hin und schenkte dem Problem weiterhin kaum Beachtung. Man sprach sogar von „Erlösung“ und meinte damit erneut, das Leben von Menschen mit Behinderungen als „unwertes Leben“ einstufen zu dürfen. Der Aufschrei des Entsetzens verblieb innerhalb der Community der Menschen mit Behinderungen.
Eine gute Gesellschaft schützt die Schwächsten und überlässt sie nicht einem eiskalten System, das nur noch auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist und alles Menschliche verloren hat.
Gerade kam ein schwerbehinderter und psychisch kranker Mann in Mannheim ums Leben. Ein Arzt des Zentralinstituts für seelische Gesundheit hatte die Polizei über die Hilfsbedürftigkeit des 47-jährigen Patienten informiert und zusammen mit den Beamten nach ihm in der Innenstadt gesucht. Die Ermittlungen laufen noch. Ich möchte diesen nicht vorgreifen, aber wir alle haben das Video im Internet gesehen, bei dem man sieht, wie dem bäuchlings am Boden liegenden Mann von einem der beiden Polizeibeamten, die ihn dort bereits fixiert hatten, zwei Faustschläge ins Gesicht verpasst wurden. Er verlor das Bewußtsein und verstarb im Krankenhaus. Seine Leiche zeigt Spuren von Gewalt.
In seiner Angst hatte er versucht, sich bei der Festnahme zu wehren. Nun ist er tot. – Er war ein ehemaliger Werkstattrat einer Behindertenwerkstätte und ein guter Freund von unserem Mitglied Andreas Scheibner.
Warum schickt man im Jahre 2022 zu solchen Einsätzen noch immer keine Profis mit, die Erfahrung mit psychisch Kranken haben und deeskalierend wirken könnten? Die Polizei muß dahingehend dringend besser ausgebildet werden und erfahrene Psychologen mitnehmen.
Deutschland hat noch immer sehr viel Verbesserungsbedarf.
Es ist eine Schande für so ein reiches Land, daß ausgerechnet kranke und behinderte Menschen über Jahre hinweg um ihre RECHTE kämpfen müssen und dabei ihre letzte Kraft verlieren.
Hätte ich in der Politik etwas zu entscheiden, wäre dies die erste Änderung, die ich machen würde und zudem müssten endlich bundesweit einheitliche Regelungen geschaffen werden, damit nicht jede Behörde in jedem Bundesland geltende Gesetze so umsetzen kann, wie sie gerade lustig ist. Wir brauchen dringend mehr juristische Unterstützung, um uns wehren zu können und um die korrekte Umsetzung unserer Rechtsansprüche zu erlangen.
Macht braucht Kontrolle. In deutschen Behörden erhalten Sachbearbeiter und Schreibtischtäter Macht über Wehrlose. Es schert kaum jemanden, wenn arme Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen bis ins Mark gedemütigt und durch die Anspruchsabwehrabteilungen um ihre Rechte geprellt werden, weil dadurch erfolgreich Geld gespart wird, das die Mächtigen an anderer Stelle wieder sinnlos verprassen können.
Wo unkontrolliert Macht ausgeübt wird, eskalieren Willkür und Machtmissbrauch zum galoppierenden Bürokratie-Irrsinn. Es ist offensichtlich der Zweck dieses behördlichen Zersetzungsprogramms, dass die Opfer aufgeben, um ihre RECHTE zu kämpfen.
Es fehlt in Deutschland ein funktionierendes Beschwerdesystem für Schwerbehinderte oder psychisch Kranke. Es existiert nur Blendwerk ohne jegliche echte Funktion.
Es ist nicht hinnehmbar, dass wir in einem Rechtsstaat leben, in dem die Gesetze ganz klar auf unserer Seite wären, aber keine Anwendung finden, weil sie von Behördenmitarbeitern boykottiert werden, sei es nun aus Unkenntnis schlecht angelernter Sachbearbeiter oder aus Kostengründen. Rechtsansprüche sind Rechtsansprüche und nichts, das man sich erst vor Gericht erkämpfen muss!
Wir fordern die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und protestieren gegen ewig gestriges Denken, übergriffige Machtdemonstrationen und grenzenlose Respektlosigkeit.
Wer frei sein will, darf nicht gehorsam sein!
Der Beginn der Freiheit ist Mut.